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Autor | Oliver Plaschka | |
Verlag | Feder & Schwert | |
Sprache | deutsch | |
Seiten | 600 | |
Erscheinungsjahr | 2007 | |
Extras | - |
Fairwater, September 1994
Die Reporterin kam frisch aus D.C., und doch wirkte sie, als sei sie an diesem Morgen lieber nicht aufgestanden und bereite sich geistig schon wieder auf ihre Abreise vor. Sie hatte nicht viel Gepäck dabei, und so staunte Jerry nicht schlecht, als er, noch mitten im Nirgendwo, mit seinem Taxi an ihr vorbeibrauste, die alte Gondel schlingernd zum Stehen brachte und wartete, ob sie wohl einsteigen mochte.
Sie wirkte nicht wie eine Geschäftsreisende und schon gar nicht wie ein Tramp. Ihre Kleidung war teuer und elegant, entsprach dabei jedoch dem gängigen Maß an Unvollkommenheit, das selbst die bedächtigsten und schönheitsbewußtesten Frauen stets von ihren Zwillingsschwestern aus der Werbung unterscheiden würde; ihr Gesicht war von einer Blässe, wie sie nur sehr reiche oder notorisch ungesund lebende Frauen kultivierten. Sie stand deplaziert und in völligem Konflikt zu ihrer Umgebung am Rande der staubigen Landstraße.
Der Name der Reporterin war Gloria. Sie haßte ihn. Sie haßte den ganzen verfluchten Tag und diese Reise. Grund mochte sein, daß ihr treuer Chevy gerade eben den Geist aufgegeben hatte, kaum daß sie die erste Ausfahrt auf sich hatte zukommen sehen. Vermutlich war ihm Tom Waits auf höchster Lautstärke nicht bekommen; Gloria selbst ertrug ihn nur außerordentlich selten und unter Widerwillen, aber es gab Zeiten, da es sich kaum vermeiden ließ, sich seiner hinreißenden Reibeisenstimme und deren rauhbeinigen Gossenmärchen hinzugeben. Seit Anthony sich von ihr getrennt hatte, war zweifellos eine solche Zeit angebrochen, und es schien mehr als angebracht, geschützt von einer schwarzen Sonnenbrille und einem Tuch über dem widerspenstigen roten Haar am Steuer eines vorsintflutlichen Cabriolets über den Highway zu rasen wie Andy Garcia in die aufkommende Tageshitze und dabei Tom Waits zu hören. Ihr Wagen, cinematographisch ein glatter Reinfall, hatte das anscheinend leider anders empfunden.
Der Sommer in Maryland konnte eine unbarmherzige Angelegenheit sein – und schon für gewöhnlich haßte Gloria ihn ebenso sehr wie alles andere, was sie momentan haßte. Nachdem der Wagen liegengeblieben war und sie sich abermals und nachdrücklich davon überzeugt hatte, daß sie von Autos nicht das Geringste verstand, hatte sie sich ihre Handtasche über die Schulter geworfen, eine Kopfschmerztablette geschluckt und war losgestiefelt; immer die dürre, sengende Landschaft am Rande der staubigen Straße entlang, die ihr mit jeder Meilenmarke einen weiteren Grund lieferte, sich von Fairwater wegzuwünschen. Sechs oder sieben Meilen, weiter konnte es eigentlich kaum sein – eine teuer erkaufte Meile als Strafe für jedes Jahr, das sie in der Stadt verbracht hatte. Sie war so lange nicht mehr hier gewesen, daß sie sich nicht mehr an die Landschaft oder die Entfernungen zu erinnern vermochte. Was für ein Morgen.
Sie reiste in die Stadt ihrer Kindheit, und sie war auf dem Weg zu ihrer ersten Beerdigung.
exklusiv für webcritics bereitstellt von Feder&Schwert, April 2007 | geschrieben am 12.04.2007 | 450 Wörter | 2545 Zeichen