ISBN | 3100486021 | |
Autor | Clemens Meyer | |
Verlag | S. Fischer | |
Sprache | deutsch | |
Seiten | 560 | |
Erscheinungsjahr | 2013 | |
Extras | - |
Es ist immer wieder bemerkenswert, wenn die Besprechungen im Feuilleton und in den Käuferbewertungen so stark divergieren wie zum vorliegenden Buch geschehen. Einerseits wird Clemens Meyers „Im Stein“ von manchen Redakteuren in ihren Besprechungen in eine Art (und nie beabsichtigtes) Privatduell zu Daniel Kehlmanns „F“ geschickt, kommt sogar auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises, aber gleichzeitig gibt es viele, die von dem Buch enttäuscht sind. Was ist nun wahr? Das ist - wie so meist - Ansichtssache. Meiner Ansicht nach ist das Buch eine hervorragende schriftstellerische Leistung, voller Kraft, voller Stilwechsel, Perspektivenmischungen, Zeitsprüngen, Collagen und vielem mehr. Die Erinnerung an Döblins „Berlin, Alexanderplatz“ kommt nicht von ungefähr, sowohl vom Inhalt als auch vom anspruchsvollen Erzählstil her. Andererseits findet man bis zum Ende nicht in eine wirkliche Geschichte, einen durchgehenden Plot hinein, sondern muss im Geist die verschiedenen Facetten sortieren, zusammenbringen und sich daraus ein Bild machen. Das ist anstrengend, nicht wirklich einfach angesichts der vielen Namen und wenigen Hilfestellungen, und wird manchen Leser schlicht frustrieren. Und letzten Endes ist es natürlich auch unerfreulich, sich durch über 550 Leseseiten zu kämpfen, denn ein flüssiges oder gar vergnügliches Herunterlesen dürfte bei diesem Werk nicht möglich sein, um dann am Ende vor offenen und vor allem vielen losen Handlungssträngen zu stehen. Für die Bewertung des Romans muss also jeder seinen eigenen Schwerpunkt setzen, der je nach Vorliebe natürlich negativ ausfallen kann. Wer ein Buch aber durchaus auch einmal um des besonderen Stils willen liest, wird beeindruckt sein.
Worum geht es in dem Buch? Um Leipzig und das Entstehen des Prostitutionsgewerbes in der Stadt und um die Stadt sowie im neuen wilden Osten generell, um Expansion und Rückzug, um Verteilungskämpfe, und um die diversen beteiligten Personen und Typen. Protagonist - sofern man das in dieser Art von Buch überhaupt sein kann - ist ein Wohnungsvermieter samt Rollkommando, Arnold Kraushaar. Er verlangt von den Frauen für die Wohnungen Tagesmiete und bietet dafür Sicherheit und Werbung, dazu vertragliche und logistische Unterstützung, immerhin hat er nebenbei Abitur gemacht und BWL studiert. Dazu gibt es (ehemalige) Mitarbeiter von Kraushaar, z.B. Karate-Steffen, der irgendwann zu den Hell’s Angels wechselte und dort in Ungnade gefallen ist, Schweine-Hans, der Clubs betreibt, sich in Diamantengeschäfte einlässt und von seinen Geschäftspartnern am Ende umgebracht wird, einen Polizisten, der erfolglos im Milieu ermittelt und vor Dienstbeginn dennoch die Dienste einer Prostituierten in Anspruch nimmt, oder auch der gescheiterte westdeutsche Investor, der Graf aus Bielefeld. Dazu kommen viele Spotlights auf beschäftigte Damen und Herren des Gewerbes. Das ist dann das eigentlich Bedrückende an dem Buch, wenn deren Leidensgeschichte Stück für Stück aufgedeckt wird, seien es die minderjährigen Herumtreiberinnen, die eingesammelt und der entsprechend gierig-heimlichen hochrangigen Kundschaft Anfang der 90er Jahre angeboten wurden, sei es ganz am Ende der Transsexuelle und dessen verstörende Jugenderfahrungen, bei dem Kraushaar seine eigentliche sexuelle Offenbarung findet. Dazu kommt in einer Art Pseudo-Interview der neue starke Mann von Leipzig zu Wort, der lokale Chef der Angels, der natürlich wie im richtigen Leben keine Verantwortung und keinen Einfluss auf das Milieu zu haben vorgibt, aber „hinter den Spiegeln“ doch klar die Regeln angibt und sich Konkurrenten und andere Clans mehr oder weniger dezent vom Hals schafft.
Alle Beteiligten haben aber gemein, ihr Gewerbe, ihre Arbeit, ihre Beweggründe als etwas ganz Alltägliches darzustellen, es ist ihr Business und nur für die Kunden etwas Besonderes, Heimliches, Verbotenes, Aufregendes. Stattdessen sind es für Kraushaar und die anderen Einnahmen, Verträge, Behördenprobleme, Gesundheitsfragen, Langeweile, körperliches Unwohlsein, Konkurrenzdruck von innen und aus dem Osten, wie in jedem anderen Job auch. Dass die Beteiligten dabei irgendein moralisches Dilemma verspüren würden, wie anderenorts beschrieben, konnte ich jedenfalls nicht ausmachen. Auch dieser Diskrepanz muss sich der Leser nach und nach stellen und irgendwann nimmt er die Beschreibungen der angebotenen Sexualtechniken oder die Berichte über eklige Erlebnisse mit „Kunden“ nur noch achselzuckend als notwendiges Beschreibungsbeiwerk zur Kenntnis - auch eine Leistung des Autors.
Wenn man den vorherigen großen Roman von Meyer noch im Kopf hat, „Als wir träumten“, ist dieser neue Roman natürlich eine herbe Veränderung. Da ist nichts mehr von der einfühlsamen Melancholie in den Erinnerungen an die Jugend und die Gewalt, nichts mehr vom gemeinsamen Lebensmut und gemeinsamer Lebensverzweiflung, stattdessen nur der kalte Kampf aller gegen alle mit einem irgendwie gearteten menschlichen Anstrich in all seinen dunklen Schattierungen, stets beischwingendes Selbstmitleid und oft auch Perspektivlosigkeit im Gepäck. So richtig zufrieden ist keiner. Die Ereignisse fließen bis in die jüngste Zeit in die Handlungen ein und geben so der gut dokumentierten Fiktion den Schein der Authentizität. Dass aus dem Roman aber ein anschauliches Bild der Entwicklungen der „Aktie Rot“ in der ostdeutschen Nachwendezeit gezeichnet würde, kann ich nicht feststellen, dafür ist es doch zu sehr auf Leipzig konzentriert und zweitens ist im Stimmengewirr - von einer Kakophonie mag man aber doch nicht sprechen - kein so klarer Faden auszumachen, als dass man sich daraus das erhoffte Gemälde spinnen könnte.
geschrieben am 19.01.2014 | 801 Wörter | 4925 Zeichen
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