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Autor | Bernard Manin | |
Verlag | Matthes & Seitz Berlin | |
Sprache | deutsch | |
Seiten | 288 | |
Erscheinungsjahr | 2007 | |
Extras | - |
In einer 1935 indizierten, inzwischen fast verschollenen aber seit 2005 wieder publizierten Schrift des Wissenschaftlers Ernst Niekisch (1889-1967) macht dieser anhand eines dualistischen VerhĂ€ltnisses deutlich, wie Regierende und Regierte eines Staates einander bedingen und in Relation zueinander stehen: âDie Tat des Untertanen ist immer so groĂ oder so klein, so folgenschwer oder so unerheblich, so weitreichend oder so kurzsichtig, wie es die Anordnung der Obrigkeit ist, durch die sie ausgelöst wurde. Die Obrigkeit hat jeweils die Untertanen, die sie verdient; fĂŒr alle SĂŒnden und UnzulĂ€nglichkeiten der Untertanen trĂ€gt die Obrigkeit die ausschlieĂliche Verantwortung.â (Ernst Niekisch: Die dritte imperiale Figur, 1935, Neudruck 2005, S. 64)
Niekisch weist hier darauf hin, daĂ jegliches MiĂverhalten, jegliches Vergehen und jegliche Straftat innerhalb eines Volkes und seinen Regierten stets nur ein Modus der Politik der Regierenden und eine analoge Spielart ihrer eigenen Vergehen an den Schaltstellen der Macht ist. Kurz und auf bundesdeutsche VerhĂ€ltnisse der Gegenwart ĂŒbertragen: Ohne einen âExtremismusâ oder ohne Verbrechen und Korruption im Staate selber, der âExtremistenâ oder Verbrecher zu definieren sich anmaĂt, wĂ€re die Existenz von politischen âExtremistenâ und ĂbeltĂ€tern im Volke selber undenkbar. Man nimmt nur solche politischen PhĂ€nomene oder Unbehaglichkeiten wahr, deren negatives Potential man selbst besitzt und damit durch die Verortung dieser PhĂ€nomene auĂerhalb des Parlaments â auĂerhalb von sich selber â diese Eigenschaften bei sich feige und unreflektiert abstreitet. Dieses enttĂ€uschende Bild liefern die reprĂ€sentativen âDemokratienâ der Gegenwart.
Es handelt sich hier um eine wesentliche Neudefinition des VerhĂ€ltnisses von Regierenden und Regierten, von etablierter Politik und neuen politischen Befindlichkeiten im Volke, die infolge ihrer aufkeimenden AktualitĂ€t eine notwendige Neureflexion ĂŒber das SelbstverstĂ€ndnis von reprĂ€sentativer Demokratie ĂŒberhaupt mit sich fĂŒhrt. Nur diese Staatsform definiert sich nĂ€mlich ĂŒber ein spezifisches VerhĂ€ltnis von Regierenden und Regierten, von Volk und Staat. Sie zeichnet sich aber gegenwĂ€rtig trotz der Notwendigkeit dieser Neureflexion durch eine selbstimmunisierende Tendenz aus: Vieles darf kritisiert werden - auĂer die âDemokratieâ oder zumindest das, was sich hegemonial und âherrschaftsfreiâ als solches ausgibt. So ist der âDemokratâ eine Karikatur der Freiheit, die er selber zu reprĂ€sentieren vorgibt. Seine reprĂ€sentative Regierungsform bedarf also einer unvoreingenommenen Analyse, um diesen Namen weiterhin zu verdienen. Diese liefert das vorliegende und mit dem Philippe-Habert-Preis ausgezeichnete Buch Bernard Manins, der, geboren 1951, Professor fĂŒr politische Philosophie an der New York University ist.
Sein nĂŒchterner Blick zielt auf das vermeintlich unantastbare ReprĂ€sentations-Axiom der Moderne, welches derselben im Sinne höherwertiger Fortentwicklung eigener AnsprĂŒche und entsprechender Innovationen aber kaum noch Rechnung zu tragen scheint. Entsprechend kommt Manin zu einer erfreulichen SchluĂfolgerung: Was wir heute unter âDemokratieâ verstehen, ist Folge der Revolutionen in Amerika und Frankreich und galt niemals als eine âRegierung des Volkesâ, denn der Wahl der ReprĂ€sentativorgane wohnt eine systemimmanente aristokratische Wirkung inne. Manin beweist damit, daĂ Verfassungstheoretiker in der ReprĂ€sentativitĂ€t ab 1789 keine Form der Demokratie sahen, da der Sieger bei Wahlen potentiell mit demjenigen Menschen ĂŒbereinstimme, der genĂŒgend finanzielle Mittel zur Selbstinszenierung bei der Wahl hatte. Dies bestĂ€tigen nach Manin zum Beispiel die Theoretiker James Madison (1751-1836) in den USA oder Emmanuel Joseph SieyĂšs (1748-1836) in Frankreich.
Manin reflektiert auf diese Weise vermeintliche politische SelbstverstĂ€ndlichkeiten kritisch und benennt Dinge, die zu benennen es inzwischen ĂŒberfĂ€llig geworden ist. Bei der reprĂ€sentativen Regierungsform seien die BĂŒrger zwar Quelle politischer Legitimation, nicht aber selbst amtsberechtigt. Bis auf den deutschen Staatsrechtler Carl Schmitt (1888-1985), der diesen Antiegalitarismus bereits frĂŒh erkannte, ignoriert Manin hier jedoch die deutsche Demokratietradition des 19. Jahrhunderts. Er beweist zwar, daĂ die reprĂ€sentative Demokratie keine volkliche Selbstregierung, sondern ein System ist, in dem die Politik lediglich zum Gegenstand des Urteils der WĂ€hler wird, wodurch die Reduzierung der Kluft zwischen Volk und Regierung aber unerreicht bleibt. Dennoch hĂ€tte er hier gerade die kontinentalen deutschen Projekte Fichtes und Hegels herausheben können, waren diese gleichwohl auf die reale und transzendentale Konvergenz von Regierenden und Regierten, auf IdentitĂ€t von Ich und Nicht-Ich im absoluten Ich, auf die Einheit von bĂŒrgerlicher Partizipation und politischer ReprĂ€sentation bedacht. Die deutschen Theoretiker wuĂten bereits frĂŒh, was heute unleugbar gespĂŒrt wird und wofĂŒr der in dieser Tradition des Deutschen Idealismus stehende Sozialphilosoph Johannes Heinrichs, geboren 1942, fĂŒr die Gegenwart in seinen Schriften Zeugnis abliefert: Parteien und erst Recht Massenparteien als alleinige willensbildende Konfigurationen haben den Niedergang des Parlamentarismus als solchen bewirkt.
Konzentriert sich Manin leider nur auf Amerika, Frankreich und England, so wirkt am Ende das Nachwort des Autors zu dieser deutschen Ausgabe versöhnlich. Es bietet eine Auswertung erodierender StammwĂ€hlerschaften und eine auf empirischen Analysen beruhende Bewertung aktueller Entwicklungen wie diejenige der Massenmedien oder das Aufkommen vieler nicht-institutionalisierter politischer Partizipationsoptionen. Nach vollendeter LektĂŒre weiĂ der Leser, daĂ der reprĂ€sentative Populismus der Parlamentsparteien und seine dadurch selbst verursachte strukturelle Unsachlichkeit gegenĂŒber neuen politischen Gedanken und Notwendigkeiten einer ĂŒberfĂ€lligen sachlichen Kritik bedarf. Sie liegt jetzt mit dem Buch Manins vor. Dasselbe zeigt an, daĂ konstruktiv gemeinte Demokratiekritik Zukunft hat â und haben muĂ. Daniel Bigalke, Dipl.-Pol.
geschrieben am 25.03.2007 | 798 Wörter | 5453 Zeichen
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