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Ein Leben ohne Kinder – Kinderlosigkeit in Deutschland


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Rezension von

Christoph Kramer

Ein Leben ohne Kinder – Kinderlosigkeit in Deutschland Die Herausgeber dieses Sammelbandes wollen sich mit ihrer „soziologischen Bestandsaufnahme“ zur Kinderlosigkeit in Deutschland von „Inhalt und Duktus“ der medialen Berichterstattung zum Thema abheben (wobei offenbar vor allem an die Berichterstattung zu den „40 Prozent“ kinderlosen Akademikerinnen gedacht ist). In der Einleitung (und auch in mehreren BeitrĂ€gen) finden sich kritische Reflektionen ĂŒber die verfĂŒgbaren Daten zur Kinderlosigkeit, besonders zu den Erhebungsverfahren. TatsĂ€chlich sind alle, die sich an der öffentlichen Debatte beteiligen, diesbezĂŒglich auf SchĂ€tzungen und NĂ€herungswerte angewiesen. Dies liegt vor allem an der „katholischen Statistik“ (Bernd Kittlaus) in Deutschland, die nur Geburten nach der Rangfolge eines bestehenden Haushalts (Mikrozensus) bzw. innerhalb einer bestehenden Ehe (Bevölkerungsstatistik) erfaßt, und nicht – wie in den meisten anderen LĂ€ndern – nach der biologischen Rangfolge. WĂ€hrend also der absolute RĂŒckgang der Kinderzahlen unstreitig ist, lĂ€ĂŸt sich die Frage, in welchem Ausmaß Kinderlosigkeit bei einzelnen Bevölkerungsgruppen (etwa die vielbeschworenen Akademikerinnen) daran beteiligt ist, nur unter bestimmten Vorbehalten beantworten. Die BeitrĂ€ge des Bandes sind in vier grĂ¶ĂŸere Sinneinheiten eingeteilt: europĂ€ischer Vergleich, strukturelle Aspekte (Bildung, Arbeitsmarkt), kulturelle bzw. mentale Aspekte sowie schließlich ErklĂ€rungs- und (implizit auch) LösungsansĂ€tze. Im ersten Abschnitt zum europĂ€ischen Vergleich sticht der Beitrag von Gerda Neyer, Jan M. Hoem und Gunnar Andersson vom Max Planck Institut fĂŒr demografische Forschung heraus. Sie zeigen anhand der Situation in Schweden, daß die Bildungsrichtung fĂŒr Kinderlosigkeit entscheidender ist, als das Bildungsniveau. Zwar steigen die Kinderlosenanteile der schwedischen Frauen in allen Bildungsrichtungen mit dem Bildungsniveau an, aber in sehr unterschiedlichen GrĂ¶ĂŸenordnungen. So ist etwa in der Kohorte 1955-59 der Anteil kinderloser Ärztinnen, Sonderschullehrerinnen und ZahnĂ€rztinnen mit UniversitĂ€tsabschluß in etwa genauso hoch wie der Anteil kinderloser ReinigungskrĂ€fte, Textilarbeiterinnen und Postbeamtinnen, die nur die zweijĂ€hrige Sekundarstufe absolviert haben. AuffĂ€llig ist, daß besonders die im Unterrichtswesen und im Gesundheitswesen beschĂ€ftigten Frauen auf allen Qualifizierungsstufen eine deutlich niedrigere Kinderlosigkeit aufweisen als ihre Geschlechtsgenossinnen in anderen Branchen. Am höchsten sind die Kinderlosenanteile unter Geisteswissenschaftlerinnen (ohne Lehramtsqualifikation), Bibliothekarinnen und Theologinnen. Der Beitrag von Katja Köppen (Max Planck Institut fĂŒr demografische Forschung), Magali Mazuy (UniversitĂ€t Paris) und Laurent Toulemon (Institut national d’études dĂ©mographiques Paris) befaßt sich mit der Kinderlosigkeit in Frankreich, die eine der niedrigsten in ganz Westeuropa ist, obwohl auch hier ein Anstieg zu beobachten ist. ErklĂ€rt wird die französische Situation mit dem gut ausgebauten Netz der Kinderbetreuung sowie dem System staatlicher ZuschĂŒsse fĂŒr Familien. Das seit 1994 eingefĂŒhrte Erziehungsgeld fĂŒr das zweite Kind und die seit 2004 bestehenden monetĂ€ren Leitungen fĂŒr das erste Kind hĂ€tten allerdings die Konsequenz gehabt, Frauen zumindest kurzfristig aus dem Berufsleben auszugliedern. Diese Angebote wurden v.a. von jungen und unqualifizierten Frauen angenommen, die in Frankreich ĂŒberproportional hĂ€ufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind. JĂŒrgen Dobritz und Kerstin Ruschdeckel (beide Bundesinstitut fĂŒr Bevölkerungsforschung) stellen die einschlĂ€gigen Daten zu Kinderlosigkeit in Deutschland im europĂ€ischen Vergleich dar und kommen zu dem Ergebnis, daß es in Deutschland eine „besondere Situation“, vielleicht sogar einen „europĂ€ischen Sonderweg“ gibt. Nirgends sonst (außer in der Schweiz) gibt es so hohe Kinderlosenanteile und einen so starken Anstiegstrend wie in Westdeutschland. Die Daten der „Population Policy Acceptance Study“ zeigen zudem, daß Kinderlosigkeit in Deutschland hĂ€ufiger als in anderen LĂ€ndern ein bewußtes und gewolltes Lebenskonzept darstellt. Auch wenn die Daten nicht ganz eindeutig sind, zeigen sie doch einen ĂŒbereinstimmenden Trend. ErklĂ€rt wird dieser Trend mit der familienpolitischen Situation in Westdeutschland, welche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erschwert, wĂ€hrend relativ viel Geld in Ehe und Familie fließt. So konnte es zu einer Polarisierung zwischen kinderlosen berufstĂ€tigen Frauen und FamilienmĂŒttern kommen, wobei der Trend zur Entscheidung fĂŒr ErwerbstĂ€tigkeit und gegen Kinder geht. In Ostdeutschland habe die pronatalistische Politik und der antiindividualistische Kollektivismus einer geschlossenen sozialistischen Gesellschaft dagegen die Tradition der Familienbildung aus den 60er Jahren indirekt bewahrt. Hier blieb es statt der westdeutschen Polarisierung bei einer starken gesamtgesellschaftlichen Orientierung auf die Zwei-Kind-Familie. Die Kinderlosenanteile scheinen sich allerdings in den jĂŒngeren JahrgĂ€ngen denen Westdeutschlands anzugleichen. Bei der durchschnittlichen Kinderzahl pro gebĂ€rende Frau liegt Ostdeutschland allerdings zusammen mit Westdeutschland (fĂŒr den Jahrgang 1965) auf den beiden letzten PlĂ€tzen in Europa. Im zweiten grĂ¶ĂŸeren Abschnitt des Sammelbandes zur „Sozialstruktur von Kinderlosigkeit in Ost- und Westdeutschland“ widmet sich Hildegard Schaeper (Hochschulinformationssystem Hannover) der Kinderlosigkeit von Hochschulabsolventinnen verschiedener Examenskohorten (1989, 1993, 1997 und 2003) im Ost-West-Vergleich. In beiden Landesteilen zeigt sich im Zeitverlauf ein zunehmender Trend zum Aufschub der FamiliengrĂŒndung nach dem Hochschulabschluß. Allerdings realisieren die Absolventinnen von ostdeutschen Hochschulen die Erstgeburt trotz Angleichungstendenzen immer noch signifikant schneller und hĂ€ufiger als ihre westdeutschen Pendants, was Schaeper auf eine „Persistenz der ostdeutschen Geschlechterkultur“ zurĂŒckfĂŒhrt. Heike Wirth (Zentrum fĂŒr Umfragen, Methoden und Analysen Mannheim) untersucht die Kinderlosigkeit von Hochqualifizierten „im Paarkontext“ und kommt zu dem Ergebnis, daß sich die reduzierte Neigung zur FamiliengrĂŒndung bei Hochqualifizierten im Kohortenvergleich verstĂ€rkt. Unterschiede gibt es dabei zwischen hypergamen (Mann höher qualifiziert als die Frau), homogamen (gleichhohe Qualifizierung) und hypogamen (Frau höher qualifiziert als der Mann) Paaren. Am geringsten ist Kinderlosigkeit bei hypergamen und am stĂ€rksten bei hypogamen Paaren ausgeprĂ€gt. Der Anteil hypogamer Beziehungen ist immerhin schon auf 30 Prozent angestiegen. Daneben sind vor allem der steigende Anteil nichtehelicher Lebensgemeinschaften und die verstĂ€rkte Erwerbsbeteiligung der Frauen Faktoren, die mit der zunehmenden Kinderlosigkeit von Hochschulabsolventinnen korrelieren. Besonders hervorzuheben ist der Artikel von Michael Stegmann und Tatjana Mika (beide Forschungsdatenzentrum der Rentenversicherung). Sie untersuchen die ZusammenhĂ€nge von Elternschaft und Alterseinkommen fĂŒr die JahrgĂ€nge 1928 bis 1955 im Ost-West-Vergleich. Die zugrundeliegenden Daten (Scientific Use File „Rentenbestand 2003“ und die Studie „Altersvorsorge in Deutschland 1996“) sind Ă€ußerst reprĂ€sentativ, da der Anteil der Bevölkerung, der eine GRV-Rente erhĂ€lt, in Ostdeutschland 99 Prozent, in Westdeutschland etwa 90 Prozent ausmacht. Aus den Daten zum Rentenbestand 2003 lĂ€ĂŸt sich fĂŒr die JahrgĂ€nge 1928 bis 1938 ersehen, daß der GeburtenrĂŒckgang in Ost- und Westdeutschland eindeutig nicht auf Kinderlosigkeit zurĂŒckzufĂŒhren ist (im Gegenteil ist Kinderlosigkeit in diesen Kohorten sogar geringer geworden), sondern ganz entscheidend auf den RĂŒckgang der Familien mit vier und mehr Kindern. In Ostdeutschland ging der Anteil der großen Familien allerdings langsamer zurĂŒck. In beiden Landesteilen gehen die Gesamtdauer der ErwerbstĂ€tigkeit und die relative Einkommensposition der Frauen mit steigender Kinderzahl zurĂŒck. Im Westen verringerte sich stĂ€rker die Gesamterwerbsdauer, im Osten dagegen sank eher die Einkommensposition der Frauen mit zunehmender Kinderzahl. Beides fĂŒhrt zu geringeren Anwartschaften auf Renten. FĂŒr die ostdeutschen Frauen hat sich die Situation allerdings durch die 1992 beschlossene „Aufwertung der Rente fĂŒr Geringverdienerinnen fĂŒr Zeiten vor 1992“ deutlich gebessert. Dies und die Anerkennung der Kindererziehung in der Rente fĂŒhren fĂŒr ostdeutsche Frauen also zu einer teilweisen Kompensation der „Einkommensdiskriminierung von MĂŒttern“ in der Rente. In Westdeutschland, wo nicht der geringe Lohn, sondern die langen Ausfallzeiten das Problem darstellen, hĂ€ngt die Altersvorsorge der MĂŒtter meist am Einkommen des Ehemannes. Durch Kinder haben sich westdeutsche Paare und erst recht allein stehende Frauen im Vergleich zu ihren kinderlosen MitbĂŒrgern deutlich schlechter gestellt, und zwar je mehr Kinder, desto schlechter. Wie groß die Unterschiede tatsĂ€chlich sind, wird im einzelnen mit erschreckenden Zahlen belegt. Daß kinderlose Frauen und Paare außerdem stĂ€rker in der Lage waren, grĂ¶ĂŸere finanzielle (an Kindern gesparte) Mittel in zusĂ€tzliche Altersvorsorge zu investieren, macht die Gesamtsituation noch ungerechter. Hier wird die Transferausbeutung von Eltern in Deutschland (West) mit HĂ€nden greifbar. Diese materielle Umverteilungsstruktur von Eltern zu Kinderlosen liefert sicher stĂ€rkere Anhaltspunkte zur ErklĂ€rung von Kinderlosigkeit und RĂŒckgang der Großfamilie als viele rein mentalitĂ€tsbezogene Modelle. Solche eher mentalitĂ€tsbezogenen Untersuchungen liefert der dritte Abschnitt des Sammelbandes zu „Kinderwunsch und Familienorientierung von MĂ€nnern und Frauen“. Besonders gelungen ist hier der Beitrag von Mandy Boehnke (UniversitĂ€t Bremen), die die niedrigere Kinderlosigkeit bei ostdeutschen Hochschulabsolventinnen auf einen höheren „strukturellen Defamilialismus“ (d.h. v.a. bessere Kinderbetreuungsangebote) bei gleichzeitig höherem „kulturellem Familialismus“ (ausgeprĂ€gte Familienwerte) in der ehemaligen DDR zurĂŒckfĂŒhrt, wĂ€hrend die Situation in der Bundesrepublik genau andersherum gewesen sei. Jan H. Marbach und Angelika Tölke vom Deutschen Jugendinstitut MĂŒnchen liefern einen Beitrag zur Herausbildung eines neuen, von der traditionellen FamilienernĂ€hrerrolle abgesetzten alternativen MĂ€nnlichkeits- und VaterverstĂ€ndnisses, das u.a. die Bereitschaft beinhaltet, Erwerbsarbeitszeit einzuschrĂ€nken und sich mehr um die Familie zu kĂŒmmern. „Trendsetter“ fĂŒr dieses neuere Lebensmodell wĂ€ren bisher vor allem hoch gebildete, beruflich erfolgreiche jĂŒngere MĂ€nner, die in einer großstĂ€dtischen Umgebung leben und in Deutschland geboren wurden. Jan Eckhard und Thomas Klein von der Soziologie der UniversitĂ€t Heidelberg beschĂ€ftigen sich mit der bei MĂ€nnern und Frauen unterschiedlichen Motivation zur Elternschaft. WĂ€hrend bei MĂ€nnern die Motive der „Paarbindungsfunktion“ und der „Sicherungsfunktion“ von Kindern stĂ€rker ausgeprĂ€gt sei, wĂ€ren fĂŒr Frauen stĂ€rker „immaterielle“ BeweggrĂŒnde von Bedeutung. Laura Bernardi und Sylvia Keim von der „unabhĂ€ngigen Nachwuchsgruppe ,The Culture of Reproduction’ am Max Planck Institut fĂŒr demografische Forschung behandeln am Beispiel von vier Frauen (zwei aus Rostock und zwei aus LĂŒbeck) die „Lebenswege und Familienmodelle berufstĂ€tiger Frauen aus Ost- und Westdeutschland“. Im vierten und letzten Abschnitt des Sammelbandes geht es schließlich um ĂŒbergreifende ErklĂ€rungsmodelle fĂŒr die hohe Kinderlosigkeit in Deutschland. Den Auftakt bestreitet Heike Kahlert vom Institut fĂŒr Soziologie und Demographie der UniversitĂ€t Rostock mit einem feministischen Ansatz. Der Wandel in den GeschlechterverhĂ€ltnissen hin zu Gleichberechtigung von Mann und Frau sei „halbiert“, weil „Gender Mainstreaming“ bisher nur im öffentlichen Bereich stattgefunden habe. Der private Bereich sei dagegen weiterhin „weiblich codiert“ und nicht durch gleichberechtigte und geschlechtergerechte Arbeitsteilung gekennzeichnet. Kahlert fordert konsequenterweise eine „Demokratisierung der Familie“ und eine Umstrukturierung der geschlechtlichen Arbeitsteilung im privaten Raum. Die Politik solle die Haus- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern gerecht (d.h. gleich) verteilen. Wie so etwas konkret aussehen könnte, wird offengelassen. Dem Rezensenten schossen beim Lesen allerdings spontan einige unangenehme Visionen durch den Kopf, vom amtlich entsendeten „Familienbeamten“, der die gerecht aufgeteilte Zeit beim Abwaschen und WĂ€schebĂŒgeln stoppt bis hin zum Familienumerziehungslager, in welches renitent patriarchalische Familien zur Besserung geschickt werden könnten. Torsten Schröder von der UniversitĂ€t Bremen liefert ein „lebensverlaufstheoretisches Modell“, das sich primĂ€r gegen die Vorstellung einer konsequent „geplanten“ Kinderlosigkeit richtet. Kinderlosigkeit sei vielmehr das Resultat eines immer wiederkehrenden „flexiblen“ Aufschiebens von KinderwĂŒnschen bis es biologisch zu spĂ€t ist. Der Abschlußbeitrag in diesem Abschnitt stammt von dem LĂŒneburger Soziologen GĂŒnter Burkart. Er konstatiert eine „Kultur der Kinderlosigkeit“, die sich inzwischen in Deutschland verfestigt habe. D.h. Kinderlosigkeit wĂŒrde nicht mehr als Manko, sondern als kultureller Wert, tw. sogar als neues Ideal betrachtet. Eine individualistische „Kultur der Selbstreflexion und Selbstthematisierung“ wĂŒrde sich in Bezug auf Elternschaft als eine „Kultur des Zweifels“ darstellen. Burkart wagt es in diesem Zusammenhang sogar, sich vom sonst dominierenden Vereinbarkeits-Mantra zu lösen und eine Professionalisierung der Elternschaft als Problemlösung anzudenken – natĂŒrlich nicht ohne die damit verbundenen „ethischen Turbulenzen“ zu thematisieren. Zuletzt bringt er die „Kultur des Zweifels“ mit den sozialen Aufsteigern der Bildungsexpansion, der „Generation der Achtundsechziger“, in Verbindung und Ă€ußert eine vage Hoffnung hinsichtlich der jĂŒngeren Generation, bei der sich die Zweifel in Bezug auf Elternschaft möglicherweise wieder reduzieren könnten. Fazit: Der Band ist ein sehr guter Einstieg in die derzeit gĂ€ngigen wissenschaftlichen Zugangsmöglichkeiten zum Thema Kinderlosigkeit. Viele BeitrĂ€ge arbeiten mit detaillierten Tabellen und instruktiven Graphiken. Hervorzuheben ist besonders die kritische Reflektion der verfĂŒgbaren statistischen Daten. Rundum gelungen.

Die Herausgeber dieses Sammelbandes wollen sich mit ihrer „soziologischen Bestandsaufnahme“ zur Kinderlosigkeit in Deutschland von „Inhalt und Duktus“ der medialen Berichterstattung zum Thema abheben (wobei offenbar vor allem an die Berichterstattung zu den „40 Prozent“ kinderlosen Akademikerinnen gedacht ist). In der Einleitung (und auch in mehreren BeitrĂ€gen) finden sich kritische Reflektionen ĂŒber die verfĂŒgbaren Daten zur Kinderlosigkeit, besonders zu den Erhebungsverfahren. TatsĂ€chlich sind alle, die sich an der öffentlichen Debatte beteiligen, diesbezĂŒglich auf SchĂ€tzungen und NĂ€herungswerte angewiesen. Dies liegt vor allem an der „katholischen Statistik“ (Bernd Kittlaus) in Deutschland, die nur Geburten nach der Rangfolge eines bestehenden Haushalts (Mikrozensus) bzw. innerhalb einer bestehenden Ehe (Bevölkerungsstatistik) erfaßt, und nicht – wie in den meisten anderen LĂ€ndern – nach der biologischen Rangfolge. WĂ€hrend also der absolute RĂŒckgang der Kinderzahlen unstreitig ist, lĂ€ĂŸt sich die Frage, in welchem Ausmaß Kinderlosigkeit bei einzelnen Bevölkerungsgruppen (etwa die vielbeschworenen Akademikerinnen) daran beteiligt ist, nur unter bestimmten Vorbehalten beantworten. Die BeitrĂ€ge des Bandes sind in vier grĂ¶ĂŸere Sinneinheiten eingeteilt: europĂ€ischer Vergleich, strukturelle Aspekte (Bildung, Arbeitsmarkt), kulturelle bzw. mentale Aspekte sowie schließlich ErklĂ€rungs- und (implizit auch) LösungsansĂ€tze.

Im ersten Abschnitt zum europĂ€ischen Vergleich sticht der Beitrag von Gerda Neyer, Jan M. Hoem und Gunnar Andersson vom Max Planck Institut fĂŒr demografische Forschung heraus. Sie zeigen anhand der Situation in Schweden, daß die Bildungsrichtung fĂŒr Kinderlosigkeit entscheidender ist, als das Bildungsniveau. Zwar steigen die Kinderlosenanteile der schwedischen Frauen in allen Bildungsrichtungen mit dem Bildungsniveau an, aber in sehr unterschiedlichen GrĂ¶ĂŸenordnungen. So ist etwa in der Kohorte 1955-59 der Anteil kinderloser Ärztinnen, Sonderschullehrerinnen und ZahnĂ€rztinnen mit UniversitĂ€tsabschluß in etwa genauso hoch wie der Anteil kinderloser ReinigungskrĂ€fte, Textilarbeiterinnen und Postbeamtinnen, die nur die zweijĂ€hrige Sekundarstufe absolviert haben. AuffĂ€llig ist, daß besonders die im Unterrichtswesen und im Gesundheitswesen beschĂ€ftigten Frauen auf allen Qualifizierungsstufen eine deutlich niedrigere Kinderlosigkeit aufweisen als ihre Geschlechtsgenossinnen in anderen Branchen. Am höchsten sind die Kinderlosenanteile unter Geisteswissenschaftlerinnen (ohne Lehramtsqualifikation), Bibliothekarinnen und Theologinnen.

Der Beitrag von Katja Köppen (Max Planck Institut fĂŒr demografische Forschung), Magali Mazuy (UniversitĂ€t Paris) und Laurent Toulemon (Institut national d’études dĂ©mographiques Paris) befaßt sich mit der Kinderlosigkeit in Frankreich, die eine der niedrigsten in ganz Westeuropa ist, obwohl auch hier ein Anstieg zu beobachten ist. ErklĂ€rt wird die französische Situation mit dem gut ausgebauten Netz der Kinderbetreuung sowie dem System staatlicher ZuschĂŒsse fĂŒr Familien. Das seit 1994 eingefĂŒhrte Erziehungsgeld fĂŒr das zweite Kind und die seit 2004 bestehenden monetĂ€ren Leitungen fĂŒr das erste Kind hĂ€tten allerdings die Konsequenz gehabt, Frauen zumindest kurzfristig aus dem Berufsleben auszugliedern. Diese Angebote wurden v.a. von jungen und unqualifizierten Frauen angenommen, die in Frankreich ĂŒberproportional hĂ€ufig von Arbeitslosigkeit betroffen sind.

JĂŒrgen Dobritz und Kerstin Ruschdeckel (beide Bundesinstitut fĂŒr Bevölkerungsforschung) stellen die einschlĂ€gigen Daten zu Kinderlosigkeit in Deutschland im europĂ€ischen Vergleich dar und kommen zu dem Ergebnis, daß es in Deutschland eine „besondere Situation“, vielleicht sogar einen „europĂ€ischen Sonderweg“ gibt. Nirgends sonst (außer in der Schweiz) gibt es so hohe Kinderlosenanteile und einen so starken Anstiegstrend wie in Westdeutschland. Die Daten der „Population Policy Acceptance Study“ zeigen zudem, daß Kinderlosigkeit in Deutschland hĂ€ufiger als in anderen LĂ€ndern ein bewußtes und gewolltes Lebenskonzept darstellt. Auch wenn die Daten nicht ganz eindeutig sind, zeigen sie doch einen ĂŒbereinstimmenden Trend. ErklĂ€rt wird dieser Trend mit der familienpolitischen Situation in Westdeutschland, welche die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erschwert, wĂ€hrend relativ viel Geld in Ehe und Familie fließt. So konnte es zu einer Polarisierung zwischen kinderlosen berufstĂ€tigen Frauen und FamilienmĂŒttern kommen, wobei der Trend zur Entscheidung fĂŒr ErwerbstĂ€tigkeit und gegen Kinder geht. In Ostdeutschland habe die pronatalistische Politik und der antiindividualistische Kollektivismus einer geschlossenen sozialistischen Gesellschaft dagegen die Tradition der Familienbildung aus den 60er Jahren indirekt bewahrt. Hier blieb es statt der westdeutschen Polarisierung bei einer starken gesamtgesellschaftlichen Orientierung auf die Zwei-Kind-Familie. Die Kinderlosenanteile scheinen sich allerdings in den jĂŒngeren JahrgĂ€ngen denen Westdeutschlands anzugleichen. Bei der durchschnittlichen Kinderzahl pro gebĂ€rende Frau liegt Ostdeutschland allerdings zusammen mit Westdeutschland (fĂŒr den Jahrgang 1965) auf den beiden letzten PlĂ€tzen in Europa.

Im zweiten grĂ¶ĂŸeren Abschnitt des Sammelbandes zur „Sozialstruktur von Kinderlosigkeit in Ost- und Westdeutschland“ widmet sich Hildegard Schaeper (Hochschulinformationssystem Hannover) der Kinderlosigkeit von Hochschulabsolventinnen verschiedener Examenskohorten (1989, 1993, 1997 und 2003) im Ost-West-Vergleich. In beiden Landesteilen zeigt sich im Zeitverlauf ein zunehmender Trend zum Aufschub der FamiliengrĂŒndung nach dem Hochschulabschluß. Allerdings realisieren die Absolventinnen von ostdeutschen Hochschulen die Erstgeburt trotz Angleichungstendenzen immer noch signifikant schneller und hĂ€ufiger als ihre westdeutschen Pendants, was Schaeper auf eine „Persistenz der ostdeutschen Geschlechterkultur“ zurĂŒckfĂŒhrt.

Heike Wirth (Zentrum fĂŒr Umfragen, Methoden und Analysen Mannheim) untersucht die Kinderlosigkeit von Hochqualifizierten „im Paarkontext“ und kommt zu dem Ergebnis, daß sich die reduzierte Neigung zur FamiliengrĂŒndung bei Hochqualifizierten im Kohortenvergleich verstĂ€rkt. Unterschiede gibt es dabei zwischen hypergamen (Mann höher qualifiziert als die Frau), homogamen (gleichhohe Qualifizierung) und hypogamen (Frau höher qualifiziert als der Mann) Paaren. Am geringsten ist Kinderlosigkeit bei hypergamen und am stĂ€rksten bei hypogamen Paaren ausgeprĂ€gt. Der Anteil hypogamer Beziehungen ist immerhin schon auf 30 Prozent angestiegen. Daneben sind vor allem der steigende Anteil nichtehelicher Lebensgemeinschaften und die verstĂ€rkte Erwerbsbeteiligung der Frauen Faktoren, die mit der zunehmenden Kinderlosigkeit von Hochschulabsolventinnen korrelieren.

Besonders hervorzuheben ist der Artikel von Michael Stegmann und Tatjana Mika (beide Forschungsdatenzentrum der Rentenversicherung). Sie untersuchen die ZusammenhĂ€nge von Elternschaft und Alterseinkommen fĂŒr die JahrgĂ€nge 1928 bis 1955 im Ost-West-Vergleich. Die zugrundeliegenden Daten (Scientific Use File „Rentenbestand 2003“ und die Studie „Altersvorsorge in Deutschland 1996“) sind Ă€ußerst reprĂ€sentativ, da der Anteil der Bevölkerung, der eine GRV-Rente erhĂ€lt, in Ostdeutschland 99 Prozent, in Westdeutschland etwa 90 Prozent ausmacht. Aus den Daten zum Rentenbestand 2003 lĂ€ĂŸt sich fĂŒr die JahrgĂ€nge 1928 bis 1938 ersehen, daß der GeburtenrĂŒckgang in Ost- und Westdeutschland eindeutig nicht auf Kinderlosigkeit zurĂŒckzufĂŒhren ist (im Gegenteil ist Kinderlosigkeit in diesen Kohorten sogar geringer geworden), sondern ganz entscheidend auf den RĂŒckgang der Familien mit vier und mehr Kindern. In Ostdeutschland ging der Anteil der großen Familien allerdings langsamer zurĂŒck. In beiden Landesteilen gehen die Gesamtdauer der ErwerbstĂ€tigkeit und die relative Einkommensposition der Frauen mit steigender Kinderzahl zurĂŒck. Im Westen verringerte sich stĂ€rker die Gesamterwerbsdauer, im Osten dagegen sank eher die Einkommensposition der Frauen mit zunehmender Kinderzahl. Beides fĂŒhrt zu geringeren Anwartschaften auf Renten. FĂŒr die ostdeutschen Frauen hat sich die Situation allerdings durch die 1992 beschlossene „Aufwertung der Rente fĂŒr Geringverdienerinnen fĂŒr Zeiten vor 1992“ deutlich gebessert. Dies und die Anerkennung der Kindererziehung in der Rente fĂŒhren fĂŒr ostdeutsche Frauen also zu einer teilweisen Kompensation der „Einkommensdiskriminierung von MĂŒttern“ in der Rente. In Westdeutschland, wo nicht der geringe Lohn, sondern die langen Ausfallzeiten das Problem darstellen, hĂ€ngt die Altersvorsorge der MĂŒtter meist am Einkommen des Ehemannes. Durch Kinder haben sich westdeutsche Paare und erst recht allein stehende Frauen im Vergleich zu ihren kinderlosen MitbĂŒrgern deutlich schlechter gestellt, und zwar je mehr Kinder, desto schlechter. Wie groß die Unterschiede tatsĂ€chlich sind, wird im einzelnen mit erschreckenden Zahlen belegt. Daß kinderlose Frauen und Paare außerdem stĂ€rker in der Lage waren, grĂ¶ĂŸere finanzielle (an Kindern gesparte) Mittel in zusĂ€tzliche Altersvorsorge zu investieren, macht die Gesamtsituation noch ungerechter. Hier wird die Transferausbeutung von Eltern in Deutschland (West) mit HĂ€nden greifbar. Diese materielle Umverteilungsstruktur von Eltern zu Kinderlosen liefert sicher stĂ€rkere Anhaltspunkte zur ErklĂ€rung von Kinderlosigkeit und RĂŒckgang der Großfamilie als viele rein mentalitĂ€tsbezogene Modelle.

Solche eher mentalitĂ€tsbezogenen Untersuchungen liefert der dritte Abschnitt des Sammelbandes zu „Kinderwunsch und Familienorientierung von MĂ€nnern und Frauen“. Besonders gelungen ist hier der Beitrag von Mandy Boehnke (UniversitĂ€t Bremen), die die niedrigere Kinderlosigkeit bei ostdeutschen Hochschulabsolventinnen auf einen höheren „strukturellen Defamilialismus“ (d.h. v.a. bessere Kinderbetreuungsangebote) bei gleichzeitig höherem „kulturellem Familialismus“ (ausgeprĂ€gte Familienwerte) in der ehemaligen DDR zurĂŒckfĂŒhrt, wĂ€hrend die Situation in der Bundesrepublik genau andersherum gewesen sei.

Jan H. Marbach und Angelika Tölke vom Deutschen Jugendinstitut MĂŒnchen liefern einen Beitrag zur Herausbildung eines neuen, von der traditionellen FamilienernĂ€hrerrolle abgesetzten alternativen MĂ€nnlichkeits- und VaterverstĂ€ndnisses, das u.a. die Bereitschaft beinhaltet, Erwerbsarbeitszeit einzuschrĂ€nken und sich mehr um die Familie zu kĂŒmmern. „Trendsetter“ fĂŒr dieses neuere Lebensmodell wĂ€ren bisher vor allem hoch gebildete, beruflich erfolgreiche jĂŒngere MĂ€nner, die in einer großstĂ€dtischen Umgebung leben und in Deutschland geboren wurden.

Jan Eckhard und Thomas Klein von der Soziologie der UniversitĂ€t Heidelberg beschĂ€ftigen sich mit der bei MĂ€nnern und Frauen unterschiedlichen Motivation zur Elternschaft. WĂ€hrend bei MĂ€nnern die Motive der „Paarbindungsfunktion“ und der „Sicherungsfunktion“ von Kindern stĂ€rker ausgeprĂ€gt sei, wĂ€ren fĂŒr Frauen stĂ€rker „immaterielle“ BeweggrĂŒnde von Bedeutung.

Laura Bernardi und Sylvia Keim von der „unabhĂ€ngigen Nachwuchsgruppe ,The Culture of Reproduction’ am Max Planck Institut fĂŒr demografische Forschung behandeln am Beispiel von vier Frauen (zwei aus Rostock und zwei aus LĂŒbeck) die „Lebenswege und Familienmodelle berufstĂ€tiger Frauen aus Ost- und Westdeutschland“.

Im vierten und letzten Abschnitt des Sammelbandes geht es schließlich um ĂŒbergreifende ErklĂ€rungsmodelle fĂŒr die hohe Kinderlosigkeit in Deutschland. Den Auftakt bestreitet Heike Kahlert vom Institut fĂŒr Soziologie und Demographie der UniversitĂ€t Rostock mit einem feministischen Ansatz. Der Wandel in den GeschlechterverhĂ€ltnissen hin zu Gleichberechtigung von Mann und Frau sei „halbiert“, weil „Gender Mainstreaming“ bisher nur im öffentlichen Bereich stattgefunden habe. Der private Bereich sei dagegen weiterhin „weiblich codiert“ und nicht durch gleichberechtigte und geschlechtergerechte Arbeitsteilung gekennzeichnet. Kahlert fordert konsequenterweise eine „Demokratisierung der Familie“ und eine Umstrukturierung der geschlechtlichen Arbeitsteilung im privaten Raum. Die Politik solle die Haus- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern gerecht (d.h. gleich) verteilen. Wie so etwas konkret aussehen könnte, wird offengelassen. Dem Rezensenten schossen beim Lesen allerdings spontan einige unangenehme Visionen durch den Kopf, vom amtlich entsendeten „Familienbeamten“, der die gerecht aufgeteilte Zeit beim Abwaschen und WĂ€schebĂŒgeln stoppt bis hin zum Familienumerziehungslager, in welches renitent patriarchalische Familien zur Besserung geschickt werden könnten.

Torsten Schröder von der UniversitĂ€t Bremen liefert ein „lebensverlaufstheoretisches Modell“, das sich primĂ€r gegen die Vorstellung einer konsequent „geplanten“ Kinderlosigkeit richtet. Kinderlosigkeit sei vielmehr das Resultat eines immer wiederkehrenden „flexiblen“ Aufschiebens von KinderwĂŒnschen bis es biologisch zu spĂ€t ist.

Der Abschlußbeitrag in diesem Abschnitt stammt von dem LĂŒneburger Soziologen GĂŒnter Burkart. Er konstatiert eine „Kultur der Kinderlosigkeit“, die sich inzwischen in Deutschland verfestigt habe. D.h. Kinderlosigkeit wĂŒrde nicht mehr als Manko, sondern als kultureller Wert, tw. sogar als neues Ideal betrachtet. Eine individualistische „Kultur der Selbstreflexion und Selbstthematisierung“ wĂŒrde sich in Bezug auf Elternschaft als eine „Kultur des Zweifels“ darstellen. Burkart wagt es in diesem Zusammenhang sogar, sich vom sonst dominierenden Vereinbarkeits-Mantra zu lösen und eine Professionalisierung der Elternschaft als Problemlösung anzudenken – natĂŒrlich nicht ohne die damit verbundenen „ethischen Turbulenzen“ zu thematisieren. Zuletzt bringt er die „Kultur des Zweifels“ mit den sozialen Aufsteigern der Bildungsexpansion, der „Generation der Achtundsechziger“, in Verbindung und Ă€ußert eine vage Hoffnung hinsichtlich der jĂŒngeren Generation, bei der sich die Zweifel in Bezug auf Elternschaft möglicherweise wieder reduzieren könnten.

Fazit: Der Band ist ein sehr guter Einstieg in die derzeit gĂ€ngigen wissenschaftlichen Zugangsmöglichkeiten zum Thema Kinderlosigkeit. Viele BeitrĂ€ge arbeiten mit detaillierten Tabellen und instruktiven Graphiken. Hervorzuheben ist besonders die kritische Reflektion der verfĂŒgbaren statistischen Daten. Rundum gelungen.

geschrieben am 04.12.2007 | 1780 Wörter | 12860 Zeichen

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