ISBN | 3821862157 | |
Autor | Klaus-Jürgen Liedtke | |
Verlag | Eichborn | |
Sprache | deutsch | |
Seiten | 431 | |
Erscheinungsjahr | 2008 | |
Extras | - |
Früher, da saßen wir bei Oma und Opa auf der Couch und beide erzählten. Sie erzählten uns von früher. Vom Krieg, von der Vertreibung. Vielleicht auch vom Wiederaufbau, der Währungskrise oder der Luftbrücke. Das alles ist heute vorbei. Nicht etwa, weil es nichts Historisches mehr zu erzählen gäbe. Vielmehr weil unsere Gesellschaft es vorzieht, die Alten abzuschieben ins Altersheim.
Dabei sind diese Schilderungen »von früher« von unschätzbarem Wert. Zum einen, weil sie nichts weniger bedeuten, als Familientradition. Wer sind meine Großeltern eigentlich? Wo kommen sie her, warum sind sie so geworden? So ängstlich, so verbittert oder vorsichtig? Zum anderen bedeuten Bereichte von damals auch immer erlebte Geschichte. Deshalb sind sie anschaulicher als jedwede Fernsehserie und machen Kinder mehr an als der Geschichtsunterricht in der Schule.
Klaus-Jürgen Liedtke hat mit seinem Buch »Die versunkene Welt. Ein ostpreußisches Dorf in Erzählungen der Leute« Ungewöhnliches gewagt. Er hat über 20 Jahre mit den letzten Überlebenden des ostpreußischen Dorfes Kermuschienen gesprochen. Es waren sechs Gehöfte mit ihren Familien, Bewohnern, mit Menschen und Schicksalen. Es ist ein Buch, auf das man sich einlassen muss. Es braucht Aufmerksamkeit. Man kann es nicht mal eben querlesen. In der U-Bahn mit Coffe-to-go in der Hand, MP3-Player an den Ohren und zwischendurch schrillt vielleicht noch das Mobiltelefon. Nein. Dies Buch will respektiert werden. Wahrgenommen wie die Menschen, die in ihm zu Worte kommen.
»Das Dorf lag in der gesamten Umgebung am höchsten. Kam man den Weg von Eszerienen herauf, in nordöstlicher Richtung und zweigte ab linkerhand vorüber am Roten Bruch, eine leichte Steigung hinan, so tat sich plötzlich der Wald auf, und hinter hügeligen Feldern tauchte oben auf der Kuppe eine Ansammlung von Höfen auf. Ineinandergeschachtelt lagen Schuppen, Ställe, Wohnhäuser um die sechs Hofplätze. In ihrer Mitte zog sich die Dorfstraße hin, kopfsteingepflastert und leicht abschüssig wie auf einem schief gehaltenen Handteller«.
Die ursprüngliche Idee Liedtkes war ein Porträt seines Großvaters, ein literarisches Bild eines Heimatdichters, eines Sammlers von Flurnamen. Doch Liedtke, der bislang als Übersetzer und Lyriker tätig war, musste merken, dass dies ohne die Schilderung von dessen Heimat und ihren Bewohnern unmöglich wäre. So begab er sich auf die konsequente Spurensuche. Entstanden ist ein höchst außergewöhnliches Dokument. Ohne falsche Scheu, - aber gleichzeitig ohne jegliches Pathos irgendeiner Verklärung lässt er schlicht und einfach die Dorfbewohner sprechen. Sie reden vollkommen willkürlich, völlig subjektiv über das was sie gehört haben, was sie annehmen oder vielleicht nach so vielen Jahrzehnten auch nur noch denken, man hätte es ihnen erzählt. Geordnet sind die biographisch-seismographischen Bruchstücke in chronologischer Folge, um den historischen Verlauf der Dorfgeschichte zu rekonstruieren. Und das Erstaunliche: All das Ausmaß an Subjektivität mindert den Wert der Begebenheiten nicht im Geringsten. Ist überlieferte Geschichte nicht letzten Endes immer nur eine subjektive Sicht? Zu dieser Subjektivität gehört auch, dass manches Zitat in Ostpreußisch ist. Der Spurensammler selbst hat sich zurückgenommen; so scheint es jedenfalls. Das ist das Air des Textes, seiner Sprache und Melodie.
»Als der Krieg mit Rußland anfing, war die Bestürzung groß, es war nichts von Hurrapatriotismus, im Gegenteil, es war ein stiller, aber starker Groll auf Hitler. Beide Söhne von Franz Steinke lagen in der Nähe der Grenze im Osten. Es war am Morgen des 2. Juni, kurz nach drei Uhr, als man deutlich den Kanonendonner hörte. In der hellen Sommernacht war der Himmel im Osten nicht nur von der aufgehenden Sonne gerötet, kaum wahrnehmbar sah man Blitze am Horizont. ‚Nu es et sowiet’, sagte die Emma beim Melken erbittert und voller Sorge. Der Franz, heftig wie er war, grummelte und schimpfte leise herum auf dem Hof, auf dem Weg zur Milchbank fing er richtig zu wettern an: ‚Nu es de Hitler ganz verreckt geworde. Jejen dem grote Rußland jeiht er jejen an.’«
Liedtkes erzählte Erzählungen beginnen mehr oder weniger beim Ersten Weltkrieg und enden mit dem Untergang des Dorfes. Nachdem 1945 die deutschen Familien ihre Heimat Kermuschienen nach dem Einzug der russischen Truppen verlassen mussten, wurden im Sommer 1948 Ukrainer aus Südostpolen in das Dorf zwangsumgesiedelt. Die letzten von ihnen lebten dort bis 1974. Weil »das Dorf so abgelegen und dazu das Land sehr hügelig war, beschlossen die Behörden, Kermuschienen als Ort aufzugeben«, berichtet Liedtke.
Klappt man das wohlgestaltete Buch zu, so umklammert einen ein warmes Gefühl: Hier, zwischen diesen Buchdeckeln, ist wahrlich einmal Erlebtes, ist Geschichte festgehalten worden.
geschrieben am 18.11.2008 | 711 Wörter | 4164 Zeichen
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