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Ästhetik des Performativen


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Rezension von

Matthias Pierre Lubinsky

Ästhetik des Performativen Die Begriffe verschwimmen in der post-post-histoire des 21. Jahrhunderts. Grenzen transzendieren. Was ist Kunst? Was bereits Pornographie? Was ist bloße Unterhaltung und Ablenkung? Die AktionskĂŒnstler der 1960er Jahre hatten dem bisherigen Werk-Begriff einen empfindlichen Schlag versetzt. Vor dem Publikum das eigene Blut zu verschmieren oder zu onanieren, provozierte eine Reaktion der Zuschauer. Joseph Beuys und Andy Warhol hießen die großen Modernen, die an diesem Rad hypermodern weiterdrehten und damit auch ihrer Zeit weit voraus waren. Stellte Beuys jegliche Trennung zwischen politischem Engagement und Kunst in Frage, so zynisierte Warhol mit seinen Siebdrucken die Dekadenz des US-amerikanischen Kunstmarktes. Dandyistisch daran war, Markt, KĂ€ufer und Kritiker subversiv und von diesen ungewollt in das Gesamtkunstwerk mit einzubeziehen. Als Christoph Schlingensief auf der Berlinale 1986 seinen Film »MenĂŒ total« zeigte, kam es zu einem fulminanten Eklat: Waren anfangs 1800 Zuschauer im Kinosaal, so waren es am Ende nur noch 400. Schlingensief spricht selbst davon, von diesen seien »200 voll gegen den Film« gewesen. Vor kurzem erzĂ€hlte der KĂŒnstler im Interview: »Es gab sogar eine SchlĂ€gerei. Wir haben dann neunzig Minuten mit Zuschauern diskutiert, und danach habe ich dann mit meiner Freundin Schluss gemacht.« Die Berliner Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte macht sich seit Jahren verdient in ihrem Versuch, heutige Begriffe in der Ästhetik-Theorie zu klĂ€ren. Ihr neuestes Buch Ȁsthetik des Performativen« schließt an ihre bisherigen Veröffentlichungen an. Theater im Sinne dieser Ästhetik des Performativen bezeichnet »unterschiedliche PhĂ€nomene und Prozesse auf verschiedenen kulturellen Feldern, wie z.B. eine spezifische Zuordnung von Akteuren und Zuschauern, Maskierung, Rollen-Spiel, effektvolle Inszenierungen von Auftritten, AbgĂ€ngen, Situationen und Ereignissen, die in unterschiedlichen kulturellen Systemen anzutreffen sind«. Diese Erweiterung des tradierten Theaterbegriffs intendiert mithin eine Entgrenzung. Einbezogen werden cultural performances wie Events, Partys oder politische Versammlungen, die ja als solche auch immer stĂ€rker Pseudo-Charakter bekommen. Die Direktorin des Instituts fĂŒr Theaterwissenschaft an der Freien UniversitĂ€t Berlin postuliert statt des bisherigen Begriffes vom WERK den des EREIGNISSES. Sie wendet sich gegen die Herangehensweise der neueren Kulturwissenschaft, die in ihrer Perzeption den TEXT in den Fokus stellt und in diesem sĂ€mtlichen Inhalt sieht. EREIGNISSE und DINGE ergeben nach ihrer Ansicht, das was als AUFFÜHRUNG kanonisiert ist. Notwendig ist die Infragestellung der bisherigen Begrifflichkeit spĂ€testens geworden, seitdem das SPIEL auf der BĂŒhne ja gar nicht mehr tatsĂ€chlich auf der BĂŒhne stattfindet, sondern in einer Art von Feedback-Schleife die Performance der Akteure mit den Reaktionen des Publikums unmittelbar und zwingend verknĂŒpft. Das Buch ist im Bereich der Kunstwissenschaften lĂ€ngst zum Bestseller avanciert. Und das nicht ganz zufĂ€llig. Denn zum einen bietet es einen wahrhaftigen Theorie-Entwurf. Eine weitere StĂ€rke des Buches ist der Verzicht auf Pseudo-Fachsprache. Durch die plausible und verstĂ€ndliche Wortwahl, durch sinnvolles und nicht scheinbar wissenschaftliches Vokabular entsteht eine lichte Transparenz. Sie lĂ€sst das Werk auch außerhalb der UniversitĂ€t lesbar sein. Doch ist das Buch mehr als das. Die dokumentarisch-exakte Schilderung von Performances lĂ€sst noch den heutigen Leser das Schaudern nachfĂŒhlen, dass die Zuschauer so mancher radikalen Aktion in den 1960er Jahren empfunden haben mĂŒssen. Das Dilemma des nicht mehr zu revidierenden Beteiligtseins des damaligen Zuschauers wird so buchstĂ€blich nach-erlebbar. Kritisch anzumerken ist unter dem Strich allenfalls, dass sich Fischer-Lichte manchmal ein wenig wiederholt. Sie argumentiert in folgenden Kapiteln fast gleich, wo es nur scheinbar um andere Argumente geht. Hier hĂ€tte man kĂŒrzen können. Auch wĂ€ren weitere Hinweise und Verbindungen zur frĂŒheren Avantgarden nĂŒtzlich. Denn die AktionskĂŒnstler um 1968 haben wahrlich nicht jede Idee selbst entwickelt. Da wurde im Grundlegenden viel geklaut. Das verstehen heutige Studenten dann, wenn sie sich beispielsweise mit Aktionen von Dada oder den Surrealisten beschĂ€ftigen. Der Weg vom Paris der Zwischenkriegszeit zu Rainer Kunzelmanns Ausstieg aus dem Sarg auf dem KurfĂŒrstendamm ist nicht so weit. Die StĂ€rke des Bandes jedenfalls liegt in den ausfĂŒhrlichen und detaillierten Beschreibungen der relevanten AuffĂŒhrungen/ Aktionen/ Performances. Wissenschaftler-Kollegen hĂ€tten sich wohl eher mit Zusammenfassungen der PhĂ€nomene begnĂŒgt. Doch darin lĂ€ge schon eine Interpretation. Fischer-Lichtes Abschluss-These von einer »Wiederverzauberung der Welt«, die sie in der Kultur der Gegenwart erblickt, ist behaglich und lĂ€dt zum Weiterdenken ein. Nicht notwendig wĂ€re hier die lange Entschuldigung gegenĂŒber der AufklĂ€rung gewesen.

Die Begriffe verschwimmen in der post-post-histoire des 21. Jahrhunderts. Grenzen transzendieren. Was ist Kunst? Was bereits Pornographie? Was ist bloße Unterhaltung und Ablenkung? Die AktionskĂŒnstler der 1960er Jahre hatten dem bisherigen Werk-Begriff einen empfindlichen Schlag versetzt. Vor dem Publikum das eigene Blut zu verschmieren oder zu onanieren, provozierte eine Reaktion der Zuschauer. Joseph Beuys und Andy Warhol hießen die großen Modernen, die an diesem Rad hypermodern weiterdrehten und damit auch ihrer Zeit weit voraus waren. Stellte Beuys jegliche Trennung zwischen politischem Engagement und Kunst in Frage, so zynisierte Warhol mit seinen Siebdrucken die Dekadenz des US-amerikanischen Kunstmarktes. Dandyistisch daran war, Markt, KĂ€ufer und Kritiker subversiv und von diesen ungewollt in das Gesamtkunstwerk mit einzubeziehen.

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Als Christoph Schlingensief auf der Berlinale 1986 seinen Film »MenĂŒ total« zeigte, kam es zu einem fulminanten Eklat: Waren anfangs 1800 Zuschauer im Kinosaal, so waren es am Ende nur noch 400. Schlingensief spricht selbst davon, von diesen seien »200 voll gegen den Film« gewesen. Vor kurzem erzĂ€hlte der KĂŒnstler im Interview: »Es gab sogar eine SchlĂ€gerei. Wir haben dann neunzig Minuten mit Zuschauern diskutiert, und danach habe ich dann mit meiner Freundin Schluss gemacht.«

Die Berliner Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte macht sich seit Jahren verdient in ihrem Versuch, heutige Begriffe in der Ästhetik-Theorie zu klĂ€ren. Ihr neuestes Buch Ȁsthetik des Performativen« schließt an ihre bisherigen Veröffentlichungen an. Theater im Sinne dieser Ästhetik des Performativen bezeichnet »unterschiedliche PhĂ€nomene und Prozesse auf verschiedenen kulturellen Feldern, wie z.B. eine spezifische Zuordnung von Akteuren und Zuschauern, Maskierung, Rollen-Spiel, effektvolle Inszenierungen von Auftritten, AbgĂ€ngen, Situationen und Ereignissen, die in unterschiedlichen kulturellen Systemen anzutreffen sind«. Diese Erweiterung des tradierten Theaterbegriffs intendiert mithin eine Entgrenzung. Einbezogen werden cultural performances wie Events, Partys oder politische Versammlungen, die ja als solche auch immer stĂ€rker Pseudo-Charakter bekommen.

Die Direktorin des Instituts fĂŒr Theaterwissenschaft an der Freien UniversitĂ€t Berlin postuliert statt des bisherigen Begriffes vom WERK den des EREIGNISSES. Sie wendet sich gegen die Herangehensweise der neueren Kulturwissenschaft, die in ihrer Perzeption den TEXT in den Fokus stellt und in diesem sĂ€mtlichen Inhalt sieht. EREIGNISSE und DINGE ergeben nach ihrer Ansicht, das was als AUFFÜHRUNG kanonisiert ist. Notwendig ist die Infragestellung der bisherigen Begrifflichkeit spĂ€testens geworden, seitdem das SPIEL auf der BĂŒhne ja gar nicht mehr tatsĂ€chlich auf der BĂŒhne stattfindet, sondern in einer Art von Feedback-Schleife die Performance der Akteure mit den Reaktionen des Publikums unmittelbar und zwingend verknĂŒpft.

Das Buch ist im Bereich der Kunstwissenschaften lĂ€ngst zum Bestseller avanciert. Und das nicht ganz zufĂ€llig. Denn zum einen bietet es einen wahrhaftigen Theorie-Entwurf. Eine weitere StĂ€rke des Buches ist der Verzicht auf Pseudo-Fachsprache. Durch die plausible und verstĂ€ndliche Wortwahl, durch sinnvolles und nicht scheinbar wissenschaftliches Vokabular entsteht eine lichte Transparenz. Sie lĂ€sst das Werk auch außerhalb der UniversitĂ€t lesbar sein. Doch ist das Buch mehr als das. Die dokumentarisch-exakte Schilderung von Performances lĂ€sst noch den heutigen Leser das Schaudern nachfĂŒhlen, dass die Zuschauer so mancher radikalen Aktion in den 1960er Jahren empfunden haben mĂŒssen. Das Dilemma des nicht mehr zu revidierenden Beteiligtseins des damaligen Zuschauers wird so buchstĂ€blich nach-erlebbar.

Kritisch anzumerken ist unter dem Strich allenfalls, dass sich Fischer-Lichte manchmal ein wenig wiederholt. Sie argumentiert in folgenden Kapiteln fast gleich, wo es nur scheinbar um andere Argumente geht. Hier hĂ€tte man kĂŒrzen können. Auch wĂ€ren weitere Hinweise und Verbindungen zur frĂŒheren Avantgarden nĂŒtzlich. Denn die AktionskĂŒnstler um 1968 haben wahrlich nicht jede Idee selbst entwickelt. Da wurde im Grundlegenden viel geklaut. Das verstehen heutige Studenten dann, wenn sie sich beispielsweise mit Aktionen von Dada oder den Surrealisten beschĂ€ftigen. Der Weg vom Paris der Zwischenkriegszeit zu Rainer Kunzelmanns Ausstieg aus dem Sarg auf dem KurfĂŒrstendamm ist nicht so weit.

Die StĂ€rke des Bandes jedenfalls liegt in den ausfĂŒhrlichen und detaillierten Beschreibungen der relevanten AuffĂŒhrungen/ Aktionen/ Performances. Wissenschaftler-Kollegen hĂ€tten sich wohl eher mit Zusammenfassungen der PhĂ€nomene begnĂŒgt. Doch darin lĂ€ge schon eine Interpretation. Fischer-Lichtes Abschluss-These von einer »Wiederverzauberung der Welt«, die sie in der Kultur der Gegenwart erblickt, ist behaglich und lĂ€dt zum Weiterdenken ein. Nicht notwendig wĂ€re hier die lange Entschuldigung gegenĂŒber der AufklĂ€rung gewesen.

geschrieben am 27.02.2009 | 668 Wörter | 4372 Zeichen

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