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Gesten


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Rezension von

Matthias Pierre Lubinsky

Gesten Die Grenzen lösen sich auf zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Grenzen zwischen Theater und politischer Demonstration. Die Grenzen zwischen sozialem Engagement und künstlerischer Darbietung, zwischen Performance und Debattenbeitrag &C. &C. Auch die Performances für sich haben sich in den vergangenen 40 Jahren stark verändert. Stand in den 1960-er Jahren mehr der gesprochene Text - mit seiner eindeutigen Botschaft - im Mittelpunkt, so sind es heute eher Gesten, körperliche Ausdrucksformen, die im sozialen Gefüge gelesen werden. Die Berliner Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte leitete das bis vor kurzem laufende große Forschungsprojekt »Ästhetik des Performativen«. Im Jahr 2004 veröffentlichte sie den Grundlagenband selbigen Titels, der heute bereits als Opus Magnum zum Themengebiet bezeichnet wird. Den Wissenschaftspreis der Stadt Berlin erhielt sie für die grandiose Forschungsleistung vom Regierenden Bürgermeister Mitte Januar 2011. Nach der Grundlagenarbeit nun der nächste Schritt: Im Jahr 2009 fand an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Projekts eine Tagung zum Thema Gesten statt. Der Tagungsband trägt den Untertitel »Inszenierung. Aufführung. Praxis«. Der Thesenansatz ist, dass den Gesten, die doch Kommunikation und soziales Verhalten so stark beeinflussen, in der Forschung bislang zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden sei. Die Herausgeber Christoph Wulf und Erika Fischer-Lichte beschreiben Funktion und Bedeutung von Gesten so: »In Gesten werden Emotionen und Denkprozesse her- und dargestellt. Gesten werden von denen erfahren, die sie machen, sie inszenieren und aufführen, und die sich als Fühlende und Denkende in der Geste wahrnehmen. Da Gesten auf andere Menschen bezogen sind, werden sie von denen, die die Erzeuger der Gesten sehen, als Ausdruck und Darstellung von deren Emotionen und Gedanken wahrgenommen. Dies ist möglich, weil die Erzeuger und die Wahrnehmenden der Gesten einer kollektiven Kommunikations- und Interaktionsgemeinschaft angehören, in der sie sich mitteilen, gemeinsame Intentionen zum Ausdruck bringen und kooperieren.« Der umfangreiche Band gliedert sich in vier Kapitel. Im ersten wird die Multimodalität der Gesten untersucht. Welche Gesten beinhaltet die Bewegung des Körpers? Das im allgemeinen Bewusstsein am stärksten verankerte Beispiel ist sicher die Geste der Hand des Sprechers. Bedeutende Gesten sind in diesem Kontext diejenigen der Begrüßung und der Entschuldigung. Anschaulich untersucht David McNeill die »Gesten der Macht und die Macht der Gesten«. Sein Beitrag ist mit vielen Photos belegt, die veranschaulichen, wie Politiker ihren Vortrag inszenieren. Er vergleicht die Gestik von Boris Jelzin mit der von Bill Clinton. Sein Ergebnis: Bei Jelzin liege ein narratives Fundament vor, eine Abfolge von Aussagen, die zu einer Pointe führe. Im Gegensatz dazu sei Clintons Fundament analytisch und bediene sich einer Hierarchie von Themen ohne eine Pointe. Die unterschiedlichen kognitiven Stile beider könnten im gemeinsamen Gespräch zur Gefahr werden, weil der jeweils andere die Gestik missverstehen könnte. Das zweite Kapitel untersucht Gesten in der Bildenden Kunst, im Film und in der Musik. Im Zeitalter der Kunst werde die Kunst selbst zur Geste. Es fände eine Verschiebung vom Werk zum Werkprozess statt. Der Film fördere die Radikalisierung des Gestischen, indem er sich in großem Maßstab der Gesten bediene, um Inhalt zu transportieren. »Die Erschütterung des Weinens wird durch den Griff zum Taschentuch in Szene gesetzt«, schreiben die Herausgeber beispielhaft. Das dritte Kapitel widmet sich dem eigentlichen Forschungsgebiet von Fischer-Lichte: Gesten in Theater, Tanz und Performance. Hier wird besonders eindrücklich, wie sich Bewegung, Gestik und Sprache gegenseitig bedingen. Beim Zuschauer wird Erinnerung hervorgerufen durch kollektiv bewusste Codes. »Gesten im Kontext von Mimesis, Bewegung und Körper« lautet das vierte und letzte Kapitel. Analysiert werden die sozialen Codes, Einfluss von Erziehung, Sozialisation und sozialem Umfeld auf die angewandten Gesten. Christoph Wulf, der sich in der Vergangenheit mit der Bedeutung und den Wirkungen von Ritualen beschäftigt hat, kommt in seiner Untersuchung zum Ergebnis, Gesten seien Ausdruck und Darstellung körperbezogenen praktischen Wissens. »Mit Hilfe von Analyse, Sprache und Denken können sie nicht erworben werden.« Zu ihrem Erwerb bedürfe es vielmehr mimetischer Prozesse: Durch Nachahmung und Anähnlichung erhalte der sich mimetisch Verhaltende die Kompetenz, Gesten mimetisch einzusetzen.

Die Grenzen lösen sich auf zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Grenzen zwischen Theater und politischer Demonstration. Die Grenzen zwischen sozialem Engagement und künstlerischer Darbietung, zwischen Performance und Debattenbeitrag &C. &C.

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Auch die Performances für sich haben sich in den vergangenen 40 Jahren stark verändert. Stand in den 1960-er Jahren mehr der gesprochene Text - mit seiner eindeutigen Botschaft - im Mittelpunkt, so sind es heute eher Gesten, körperliche Ausdrucksformen, die im sozialen Gefüge gelesen werden.

Die Berliner Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte leitete das bis vor kurzem laufende große Forschungsprojekt »Ästhetik des Performativen«. Im Jahr 2004 veröffentlichte sie den Grundlagenband selbigen Titels, der heute bereits als Opus Magnum zum Themengebiet bezeichnet wird. Den Wissenschaftspreis der Stadt Berlin erhielt sie für die grandiose Forschungsleistung vom Regierenden Bürgermeister Mitte Januar 2011.

Nach der Grundlagenarbeit nun der nächste Schritt: Im Jahr 2009 fand an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Projekts eine Tagung zum Thema Gesten statt. Der Tagungsband trägt den Untertitel »Inszenierung. Aufführung. Praxis«. Der Thesenansatz ist, dass den Gesten, die doch Kommunikation und soziales Verhalten so stark beeinflussen, in der Forschung bislang zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden sei.

Die Herausgeber Christoph Wulf und Erika Fischer-Lichte beschreiben Funktion und Bedeutung von Gesten so: »In Gesten werden Emotionen und Denkprozesse her- und dargestellt. Gesten werden von denen erfahren, die sie machen, sie inszenieren und aufführen, und die sich als Fühlende und Denkende in der Geste wahrnehmen. Da Gesten auf andere Menschen bezogen sind, werden sie von denen, die die Erzeuger der Gesten sehen, als Ausdruck und Darstellung von deren Emotionen und Gedanken wahrgenommen. Dies ist möglich, weil die Erzeuger und die Wahrnehmenden der Gesten einer kollektiven Kommunikations- und Interaktionsgemeinschaft angehören, in der sie sich mitteilen, gemeinsame Intentionen zum Ausdruck bringen und kooperieren.«

Der umfangreiche Band gliedert sich in vier Kapitel. Im ersten wird die Multimodalität der Gesten untersucht. Welche Gesten beinhaltet die Bewegung des Körpers? Das im allgemeinen Bewusstsein am stärksten verankerte Beispiel ist sicher die Geste der Hand des Sprechers. Bedeutende Gesten sind in diesem Kontext diejenigen der Begrüßung und der Entschuldigung. Anschaulich untersucht David McNeill die »Gesten der Macht und die Macht der Gesten«. Sein Beitrag ist mit vielen Photos belegt, die veranschaulichen, wie Politiker ihren Vortrag inszenieren. Er vergleicht die Gestik von Boris Jelzin mit der von Bill Clinton. Sein Ergebnis: Bei Jelzin liege ein narratives Fundament vor, eine Abfolge von Aussagen, die zu einer Pointe führe. Im Gegensatz dazu sei Clintons Fundament analytisch und bediene sich einer Hierarchie von Themen ohne eine Pointe. Die unterschiedlichen kognitiven Stile beider könnten im gemeinsamen Gespräch zur Gefahr werden, weil der jeweils andere die Gestik missverstehen könnte.

Das zweite Kapitel untersucht Gesten in der Bildenden Kunst, im Film und in der Musik. Im Zeitalter der Kunst werde die Kunst selbst zur Geste. Es fände eine Verschiebung vom Werk zum Werkprozess statt. Der Film fördere die Radikalisierung des Gestischen, indem er sich in großem Maßstab der Gesten bediene, um Inhalt zu transportieren. »Die Erschütterung des Weinens wird durch den Griff zum Taschentuch in Szene gesetzt«, schreiben die Herausgeber beispielhaft.

Das dritte Kapitel widmet sich dem eigentlichen Forschungsgebiet von Fischer-Lichte: Gesten in Theater, Tanz und Performance. Hier wird besonders eindrücklich, wie sich Bewegung, Gestik und Sprache gegenseitig bedingen. Beim Zuschauer wird Erinnerung hervorgerufen durch kollektiv bewusste Codes.

»Gesten im Kontext von Mimesis, Bewegung und Körper« lautet das vierte und letzte Kapitel. Analysiert werden die sozialen Codes, Einfluss von Erziehung, Sozialisation und sozialem Umfeld auf die angewandten Gesten. Christoph Wulf, der sich in der Vergangenheit mit der Bedeutung und den Wirkungen von Ritualen beschäftigt hat, kommt in seiner Untersuchung zum Ergebnis, Gesten seien Ausdruck und Darstellung körperbezogenen praktischen Wissens. »Mit Hilfe von Analyse, Sprache und Denken können sie nicht erworben werden.« Zu ihrem Erwerb bedürfe es vielmehr mimetischer Prozesse: Durch Nachahmung und Anähnlichung erhalte der sich mimetisch Verhaltende die Kompetenz, Gesten mimetisch einzusetzen.

geschrieben am 25.01.2011 | 635 Wörter | 3978 Zeichen

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