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Geheimnis der Kategorien. Die Entschlüsselung von Kants zentralem Lehrstück


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Rezension von

Daniel Bigalke

Geheimnis der Kategorien. Die Entschlüsselung von Kants zentralem Lehrstück Immanuel Kant (1724-1804) erhoffte sich im Vorwort zu der ersten Ausgabe der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) einen Leser, der zugleich die „Unparteilichkeit eines Richters“ und den weiterführenden „Beistand eines Mithelfers“ an den Tag legt. Beide Eigenschaften bietet diese Interpretation von „Kants zentralem Lehrstück“. Heinrichs ergründet unvoreingenommen und souverän Kants für jegliche nachfolgende Philosophie ausschlaggebendes Werk und bietet zugleich den Beistand eines Fürsprechers, der Kants Theorie würdigt und zugleich für die Gegenwart in Richtung einer modernen Handlungstheorie weiterdenkt. Es war die zentrale Leistung Kants, aufgezeigt zu haben, daß es transzendentale Erkenntnisse und eine diesen entsprechende transzendentale, d.h. in Heinrichs’ Deutung reflexive Methode gibt, die sich nicht nur mit den Gegenständen, sondern mit der menschlichen Erkenntnisart von Gegenständen und ihrer apriorischen Möglichkeit beschäftigen. Kant war der Initiator subjektiver Reflexion, genauer der Reflexion der Subjekt-Objekt-Relation, der Urheber der von ihm selbst mit Recht so genannten „Kopernikanischen Wende“. Der Autor entwickelt im vorliegenden Buch Kants Theorie weiter, indem er sie in ihrem wesentlichen Anspruch ernst nimmt und mitdenkend interpretiert. Er stellt sich durch diese dialogische Neuinterpretation (188) gegen die „Zeitkrankheit des Historismus“ (19). Er zeigt dabei anhand Kants, seltsamerweise in einem Anhang versteckten, Reflexionsbegriffspaaren (1. Einerlei und Verschiedenheit, 2. Einstimmung und Widerstreit, 3. Inneres und Äußeres, 4. Form und Inhalt) auf, daß diese die Urfunktionen des Verstandes als Verbindungsvermögen beschreiben und damit die gestufte Grundstruktur menschlichen Selbstbewußtseins kennzeichnen sowie die eigentliche Begründung für die Kategoriengruppen bilden: 1. Quantität, 2. Qualität, 3. Relation und 4. Modalität. Dem mit Heinrichs’ Schriften vertrauten Leser leuchtet an dieser Stelle ein, daß seine Theorie der Viergliederung der interpersonal-sozialen Reflexion und der sozialen Systeme dieser Vierfachheit der Reflexionsstufen entspringt, wobei jene interpersonale Reflexion erst der Entdeckungszusammenhang für diese tieferliegende und allgemeinere Vierstufung der Reflexion darstellt. Diese war offenbar und erstaunlicherweise bei Kant implizit angelegt, konnte aber von ihm wegen der fehlenden Interpersonaltheorie noch nicht hinreichend begründet werden. Heinrichs beklagt diese Verdrängung der Begründungsproblematik in der Kantforschung. Mit der fehlenden Begründung hänge die mangelnde Konkretisierung oder Anwendung der Kategorien in der Literatur nach Kant zusammen. Es gelingt Heinrichs in beeindruckendem Maße, diese Konkretisierung der Kategorien auf verschiedenen Gebieten zu entfalten, beispielsweise in seiner Handlungs- und Sprachtheorie (Reflexionstheoretische Semiotik I und II, 1980/81) sowie im Demokratiebuch von 2003 als politisch höchst relevante Viergliederungstheorie. Diese Kontinuität zu Kant selbst verständlich zu machen, ist Anliegen und Leistung des Kant-Buches. Damit folgt Heinrichs den von Kant-Liebhabern durchaus gesetzten, aber nicht erfüllten Anspruch, für jede kritische und systematische Philosophie auf Kants Kategorientafel als Modell für apriorische Systematik zurückgreifen zu müssen. Dies gelingt in diesem Buch vortrefflich. Die aufschlußreiche Interpretation der kantischen Kategorien als Schlüssel zum Gesamtverständnis zugleich von Kant wie gegenwärtiger Reflexionstheorie ist womöglich für historisierende Kantphilologen ein gewagter Schritt, jedoch für das Denken in Kants eigener Tradition ein gewaltiger Sprung jenseits innerakademischer Stagnation. Entsprechend bilanziert Heinrichs selbst: „Man nimmt Kants implizites Denken und Wollen nur ernst, wenn man sein explizites Denken transzendiert. (...) Es geht aber um den lebendig, in neuem Denken, weiterentwickelten Kant.“ (292). Genau das bietet der Autor an: Die Interpretation von Kants Transzendentalphilosophie als anfängliche Reflexionstheorie. Er zerschneidet die Tücher des Kant-Mumienkultes und eines verharrenden und unfruchtbar bleibenden schulphilosophischen Historismus, und er stellt ein neues Modell der Kant-Auslegung vor, das den Königsberger als entscheidenden Initiator heutiger Reflexions-Systemtheorie erscheinen läßt, in welcher Linie auch J.G. Fichte und Hegel stehen. Zum umfassenden Verständnis ist das Buch mit mehreren Nachträgen und Essays versehen: zu bisherigen Kategorien-Büchern seit 1986, zu kategorialer und systemtheoretischer Sozialphilosophie, zum „Versagen des geisteswissenschaftlichen Diskurses“ (269) sowie zu einem erstaunlichen Brückenschlag zwischen Kants und Aristoteles Kategorienlehren (307-316). Konstruktive und plausible Kritik aus hohem wissenschaftlichem Anspruch sorgen für ein bei Heinrichs charakteristisches Lektüreerlebnis. Ein Glossar zur Erläuterung der wichtigsten Begriffe erleichtert es dem Leser, sowohl Kants Terminologie selbst als auch seine Fortentwicklung bei den nachfolgenden Philosophen sowie bei Heinrichs selbst besser zu verstehen. In Zeiten zunehmend gehemmter akademischer Auseinandersetzung über grundsätzliche philosophische Fragen und Methoden sowie der Abnahme gesellschaftlicher Relevanz sozialwissenschaftlicher Fächer bei gleichzeitiger Expansion ihrer Studentenzahlen ist dieses Buch ein hoffnungsvoll stimmender Lichtblick. Er macht die grundlegende Bedeutung der auf das praktische Leben bedachten Universalphilosophen des 19. Jahrhunderts nachvollziehbar und läßt diesen Anspruch auch als erstrebenswert, ja erfüllbar für die Gegenwart aufscheinen.

Immanuel Kant (1724-1804) erhoffte sich im Vorwort zu der ersten Ausgabe der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) einen Leser, der zugleich die „Unparteilichkeit eines Richters“ und den weiterführenden „Beistand eines Mithelfers“ an den Tag legt. Beide Eigenschaften bietet diese Interpretation von „Kants zentralem Lehrstück“. Heinrichs ergründet unvoreingenommen und souverän Kants für jegliche nachfolgende Philosophie ausschlaggebendes Werk und bietet zugleich den Beistand eines Fürsprechers, der Kants Theorie würdigt und zugleich für die Gegenwart in Richtung einer modernen Handlungstheorie weiterdenkt. Es war die zentrale Leistung Kants, aufgezeigt zu haben, daß es transzendentale Erkenntnisse und eine diesen entsprechende transzendentale, d.h. in Heinrichs’ Deutung reflexive Methode gibt, die sich nicht nur mit den Gegenständen, sondern mit der menschlichen Erkenntnisart von Gegenständen und ihrer apriorischen Möglichkeit beschäftigen. Kant war der Initiator subjektiver Reflexion, genauer der Reflexion der Subjekt-Objekt-Relation, der Urheber der von ihm selbst mit Recht so genannten „Kopernikanischen Wende“.

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Der Autor entwickelt im vorliegenden Buch Kants Theorie weiter, indem er sie in ihrem wesentlichen Anspruch ernst nimmt und mitdenkend interpretiert. Er stellt sich durch diese dialogische Neuinterpretation (188) gegen die „Zeitkrankheit des Historismus“ (19). Er zeigt dabei anhand Kants, seltsamerweise in einem Anhang versteckten, Reflexionsbegriffspaaren (1. Einerlei und Verschiedenheit, 2. Einstimmung und Widerstreit, 3. Inneres und Äußeres, 4. Form und Inhalt) auf, daß diese die Urfunktionen des Verstandes als Verbindungsvermögen beschreiben und damit die gestufte Grundstruktur menschlichen Selbstbewußtseins kennzeichnen sowie die eigentliche Begründung für die Kategoriengruppen bilden: 1. Quantität, 2. Qualität, 3. Relation und 4. Modalität. Dem mit Heinrichs’ Schriften vertrauten Leser leuchtet an dieser Stelle ein, daß seine Theorie der Viergliederung der interpersonal-sozialen Reflexion und der sozialen Systeme dieser Vierfachheit der Reflexionsstufen entspringt, wobei jene interpersonale Reflexion erst der Entdeckungszusammenhang für diese tieferliegende und allgemeinere Vierstufung der Reflexion darstellt. Diese war offenbar und erstaunlicherweise bei Kant implizit angelegt, konnte aber von ihm wegen der fehlenden Interpersonaltheorie noch nicht hinreichend begründet werden. Heinrichs beklagt diese Verdrängung der Begründungsproblematik in der Kantforschung. Mit der fehlenden Begründung hänge die mangelnde Konkretisierung oder Anwendung der Kategorien in der Literatur nach Kant zusammen. Es gelingt Heinrichs in beeindruckendem Maße, diese Konkretisierung der Kategorien auf verschiedenen Gebieten zu entfalten, beispielsweise in seiner Handlungs- und Sprachtheorie (Reflexionstheoretische Semiotik I und II, 1980/81) sowie im Demokratiebuch von 2003 als politisch höchst relevante Viergliederungstheorie. Diese Kontinuität zu Kant selbst verständlich zu machen, ist Anliegen und Leistung des Kant-Buches. Damit folgt Heinrichs den von Kant-Liebhabern durchaus gesetzten, aber nicht erfüllten Anspruch, für jede kritische und systematische Philosophie auf Kants Kategorientafel als Modell für apriorische Systematik zurückgreifen zu müssen. Dies gelingt in diesem Buch vortrefflich. Die aufschlußreiche Interpretation der kantischen Kategorien als Schlüssel zum Gesamtverständnis zugleich von Kant wie gegenwärtiger Reflexionstheorie ist womöglich für historisierende Kantphilologen ein gewagter Schritt, jedoch für das Denken in Kants eigener Tradition ein gewaltiger Sprung jenseits innerakademischer Stagnation. Entsprechend bilanziert Heinrichs selbst: „Man nimmt Kants implizites Denken und Wollen nur ernst, wenn man sein explizites Denken transzendiert. (...) Es geht aber um den lebendig, in neuem Denken, weiterentwickelten Kant.“ (292). Genau das bietet der Autor an: Die Interpretation von Kants Transzendentalphilosophie als anfängliche Reflexionstheorie. Er zerschneidet die Tücher des Kant-Mumienkultes und eines verharrenden und unfruchtbar bleibenden schulphilosophischen Historismus, und er stellt ein neues Modell der Kant-Auslegung vor, das den Königsberger als entscheidenden Initiator heutiger Reflexions-Systemtheorie erscheinen läßt, in welcher Linie auch J.G. Fichte und Hegel stehen.

Zum umfassenden Verständnis ist das Buch mit mehreren Nachträgen und Essays versehen: zu bisherigen Kategorien-Büchern seit 1986, zu kategorialer und systemtheoretischer Sozialphilosophie, zum „Versagen des geisteswissenschaftlichen Diskurses“ (269) sowie zu einem erstaunlichen Brückenschlag zwischen Kants und Aristoteles Kategorienlehren (307-316). Konstruktive und plausible Kritik aus hohem wissenschaftlichem Anspruch sorgen für ein bei Heinrichs charakteristisches Lektüreerlebnis. Ein Glossar zur Erläuterung der wichtigsten Begriffe erleichtert es dem Leser, sowohl Kants Terminologie selbst als auch seine Fortentwicklung bei den nachfolgenden Philosophen sowie bei Heinrichs selbst besser zu verstehen. In Zeiten zunehmend gehemmter akademischer Auseinandersetzung über grundsätzliche philosophische Fragen und Methoden sowie der Abnahme gesellschaftlicher Relevanz sozialwissenschaftlicher Fächer bei gleichzeitiger Expansion ihrer Studentenzahlen ist dieses Buch ein hoffnungsvoll stimmender Lichtblick. Er macht die grundlegende Bedeutung der auf das praktische Leben bedachten Universalphilosophen des 19. Jahrhunderts nachvollziehbar und läßt diesen Anspruch auch als erstrebenswert, ja erfüllbar für die Gegenwart aufscheinen.

geschrieben am 10.11.2006 | 690 Wörter | 5027 Zeichen

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